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DIE STIMMFUNKTION (PHONATION)
Autor: Dr. Heinz Stolze,
erschienen am 17.8.2007 in forum-stimme.de
ergänzt und überarbeitet am 27.11.2012
Hinweis
Die unten angegebene Darstellung der Phonation ist insofern vereinfacht, als sie die Jet-Bildung der Strömung durch die Glottis nicht berücksichtigt.
Zum Thema
Die Bewegung der Stimmlippen lässt sich als das zentrale Geschehen der Stimmfunktion auffassen. Es kommt dabei zu einem periodischen Öffnen und Schließen des Luftweges durch den Kehlkopf hindurch. Der Strom der Ausatemluft wird somit immer wieder unterbrochen und freigegeben. So entstehen unterhalb und oberhalb der Stimmlippen plötzliche Druckschwankungen, die Schallwellen auslösen. Dieser Prozess wird auch als Phonation bezeichnet.
Im vorliegenden Artikel wird beschrieben, wie die Schwingung der Stimmlippen durch den Luftstrom des Ausatmens angetrieben wird. Hierbei ist die Beweglichkeit der Stimmlippenoberfläche von besonderer Bedeutung. Trainingsmöglichkeiten, speziell für ältere Menschen werden diskutiert.
Statt eines fortlaufenden Textes wurde die Darstellung in Form einer Bild-Text-Landschaft gewählt. Im Zentrum steht eine schematische Skizze eines Schwingungszyklus der Stimmlippen. Darum herum werden einzelne Aspekte dieses Prozesses aufgegriffen und erklärt, unten finden sich weitere Betrachtungen zur Phonation.

Technischer Hinweis
Leider geben einige Browser die Textfelder möglicherweise zu breit wieder, so dass die gewünschte gemeinsame Darstellung von Text und Bild(teilen) im Fenster des Besuchers nicht funktioniert.

Unabhänig davon besteht das Konzept dieser Bild-Text-Landschaft darin, dass der Betrachter sich von Thema zu Thema durchscrollt.


Anatomische Orientierung
Die Stimmlippen sind mit Gewebe bedeckte Muskeln, die innen im Kehlkopf aufgespannt sind. Wenn Sie bisher die Vorstellung von "Stimmbändern" hatten, ist vor dem Weiterlesen ein Blick auf den Kurzartikel "Stimmbänder" zu empfehlen.
Das runde Bild zeigt schematisch einen Blick von oben auf die Stimmlippen, wie ihn sich der Stimmarzt mithilfe eines speziellen Spiegels oder einer Fiberglasoptik verschaffen kann. Die Stimmlippen sind in geschlossener Stellung zu sehen. Sie sind im entspannten Zustand etwa 1,4 cm (hohe Frauenstimme) bis 2,4 cm (tiefe Männerstimme) lang. Ihr vorderes Ende ist am Schildknorpel angewachsen. Dies ist der auch als Adamsapfel bezeichnete Knorpel, der vor allem bei Männern oft deutlich am vorderen Hals vorspringt. Das andere Ende ist jeweils mit einem Stellknorpel verwachsen, der seitlich bewegt und gedreht werden kann. Ein Teil von ihm steht nach oben vor und zeichnet sich unter der Schleimhaut ab.
Oben im Bild sieht man den Kehldeckel in aufgestellter Position. Beim Schlucken klappt er herunter, damit keine Nahrungsteilchen in den Luftweg zur Lunge eindringen, zusätzlich werden die Stimmlippen geschlossen gehalten.
Die Öffnung der Stimmlippen beim Einatmen und ihre Schwingung bei der Phonation können Sie auf einer Webseite der Universität Mainz (> Stimmlippenbilder) in Photos und Videos anschauen.
Um die Bewegung der Stimmlippenränder während eines Schwingungszyklus zu zeigen (Stimmlippenform nach Schönhärl), werden die Stimmlippen unten rechts in der Schnittfläche dargestellt, die senkrecht auf der gestrichelten waagerechten Linie (Zeichnung rechts) steht. Die Schnittbilder sind gegenüber der Aufsicht vergrößert dargestellt, der Schwingungsverlauf ist gegen den Uhrzeigersinn angeordnet.
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Die Stimmlippen sind geschlossen, sie liegen also aneinander an. Da sie zuvor mit Schwung aufeinandergetroffen sind, haben sie sich an der Berührungsstelle und darum herum verformt. Somit entstehen Kräfte die sie auseinandertreiben.
Von unten wirkt der erhöhte Luftdruck von der Lunge her ein. Somit entstehen Kräfte senkrecht zu den Wandungen. Sie haben eine Komponente nach oben und eine seitliche, die auf beiden Stimmlippen eine Kraft nach außen hin bewirkt. So kommt es zu seitlichen und auch zu vertikalen Bewegungen.
2
Die Stimmlippen sind in Bewegung nach außen und auch etwas nach oben gekommen. Der Druck von unten wirkt weiter, ein wenig auch noch die elastischen Kräfte durch die Verformung des Randes.
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Die Masse der Stimmlippen setzt ihre Bewegung nach innen hin fort, der Verschluß wird fester. Die Bewegung wird gebremst. Ein Teil der Bewegungsenergie wird in in potentielle Energie gewandelt ein Teil dissipiert und geht für die Schwingungsbewegung insgesamt verloren .
3
Die Bewegung der Stimmlippen ist noch schneller geworden, sie werden sich gleich voneinander lösen.
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Die Stimmlippen berühren sich, es kommt zum Stimmlippenschluß. Dabei prallen die Oberflächen beider Stimmlippen mit hohem Tempo aufeinander. Je nach Tonhöhe wird der links dargestellte Zyklus beim Sprechen etwa 50 bis 400 Mal pro Sekunde durchlaufen. - dementsprechend viele "Zusammenstöße" der Stimmlippen finden statt!
Der Stimmklang ist besonders rein und obertonreich, wenn der Schluß luftdicht ist und sehr schnell erfolgt(> siehe Nebenthema Schluß- und Klangqualität).
Nebenthema: Schluß- und Klangqualität
Kräftiger und klangvoller Schall entsteht immer dann, wenn Luft sehr plötzlich in Bewegung gesetzt wird. Sie kennen das sicher vom Händeklatschen: Die Handflächen müssen schnell aufeinander treffen und dicht aufliegen, damit der Schall hell und kräftig wird. Die Luft zwischen den Händen wird dabei schnell und fast komplett nach außen gedrückt.

Für die Funktion der Stimmlippen zur Schallerzeugung gilt analog: sie sollten beim Schließen das Ausströmen der Atemluft schnell und vollständig unterbrechen. Dann kommt es zu einem starken Unterdruck über ihnen. Denn die dort befindliche Luft ist in schneller Bewegung nach oben und von unten kann nichts mehr nachkommen - siehe rechts.
> größere Zeichnung, weitere Erklärungen

Es entsteht sozusagen ein "Unterdruckknall" über den Stimmlippen. Von daher ist es also leicht verständlich, dass für einen guten Klang die Stimmlippenoberfläche beweglich und elastisch sein sollte, um gut zu dichten und um den Saugkräfte beim Schließen schnell folgen zu können.

Übrigens entsteht komplementär zum "Unterdruckknall" ein "Überdruckknall" unter den Stimmlippen. Denn die Luft von unten strömt auch nach dem Verschluss erst einmal weiter nach oben und verdichtet sich dabei. Somit läuft vom Kehlkopf aus nicht nur eine Schallwelle nach oben in den Vokaltrakt, sondern auch eine nach unten in die Luftröhre und weiter. Sie verdient wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher zugekommen ist.
> mehr dazu
4
Zwischen den Stimmlippen besteht nun eine Öffnung (Glottis genannt). Die Luftströmung nach oben hat bereits eingesetzt. Sie wird immer schneller, da permanent der beschleunigende Druck von unten wirkt. Dabei öffnen sich die Stimmlippen weiter, so dass die Querschnittsöffnung zunimmt. Zunahme der Geschwindigkeit und des Querschnittes resultieren in einer entsprechenden Zunahme des Luftstromes, angedeutet durch den hellblauen Schweif.
6
In dieser Phase ist eine markante und für den Schwingungsprozesss bedeutsame Formänderung eingetreten. Sie wird durch den Unterdruck ausgelöst, der duch die schnelle Luftströmung zwischen den Stimmlippen entsteht. Dieses Phänomen wird als Bernoulli-Effekt bezeichnet. Die Schleimhaut und die oberen Gewebeschichten der Stimmlippen werden vom Unterdruck nach innen gezogen. Sie folgen dem Unterdruck viel schneller als die trage Gesamtmasse der Stimmlippen. Dies geht natürlich nur dann, wenn sie leicht beweglich sind. Der Querschnitt der Öffnung für den Luftstrom wird nun immer enger, der Luftstrom kompensiert den verringerten Strömungsquerschnitt durch erhöhte Fließgeschwindigkeit, damit steigt auch der Unterdruck, der die Stimmlippen aufeinander zu saugt. In dieser Phase nimmt die Stimmlippenschwingung viel Energie auf.
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Hier ist der Wendepunkt der Stimmlippen, die maximale Öffnung ist erreicht. Die Stimmlippen haben nun eine deutliche Verlängerung erfahren. Sie entwickeln aufgrund ihrer Elastizität eine Rückstellkraft, im Prinzip genau wie eine Instrumenten-Saite. Diese wirkte bereits in den vorangehenden Phasen gegen eine weitere Öffnung und bremste die Bewegung nach außen ab. Im folgenden wirkt sie weiter und beschleunigt die Stimmlippen in Schließrichtung. sie wird dabei immer schwächer, da die Länge der Stimmlippen wieder abnimmt.

Anmerkungen zu dem dargestellten Zyklus
Die schematischen Zeichnungen zeigen den typischen Verlauf im "Brustregister", das Frauen und Männer normalerweise zum Sprechen benutzen. Im "Kopfregister" (Falsett) sind die Stimmlippen mehr gespannt und dünner und die Verformungen der inneren Ränder geringer.

Links ist die Schwingung der Stimmlippen im "Brustregister" in einem animierten Bild zu sehen, rechts eine reine "Randkantenschwingung" (idealisiert), wie sie bei extrem leisen Tönen auftreten kann. Die Farben zeigen schematisch den Aufbau der Stimmlippen: Rot= Muskel, gelb=Ligament (Stimmband), Hellbraun=Schleimhaut.
Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Image, Autor: Reinhard.

In der Darstellung oben (Brustregister) sind die Stimmlippen die Hälfte der Schwingungsperiode zu, die andere Hälfte auf. Dies ist nur als eine mögliche Realisierung anzusehen. Das Verhältnis der Dauern von "offen" zur Dauer eines Gesamtzyklus beträgt typischerweise 40% bis 70 % . Bei gepresster Stimmgebung kann dieses Verhältnis noch kürzer sein, bei "luftiger" Stimmgebung länger. Gepresste Stimmgebung erfolgt, indem die Stellknorpel nahe aneinandergefahren und fest aneinander gedrückt werden, bei luftiger Stimmgebung fahren die Stellknorpel etwas auseinander.
Wir haben hier einen Zyklus im eingeschwungenen Zustand gezeigt. Das Einsetzen der Schwingung ganz zu Beginn der Phonation ist ein spezielles Thema, das hier nicht weiter behandelt wird.


Generelle Aspekte

Beweglichkeit ist wichtig - Training und Pflege
Wie zur Phase 6 und im Nebenthema "Schluß- und Klangqualität" beschrieben, ist eine gute Beweglichkeit und Flexibilität der Stimmlippenoberfläche erforderlich, damit ein guter Schluß entsteht und die Energieaufnahme aus dem Luftstrom gut funktioniert.
Damit stellt sich die Frage, ob eine gute Beweglichleit der Stimmlippenoberfläche trainierbar ist. Dazu bieten sich Übungen an, bei denen möglichst nur der Rand der Stimmlippen (die Rankante) zum schwingen kommt. So wird die Flexibilität bei geringen Druckkräften und unter minimierten Belastungen durch Aufeinanderprallen der Schleimhäute gefördert. Dies ist speziell für die Stimme älterer Menschen eine Basisübung, da die Flexibilität und Beanspruchbarkeit der Schleimhäute mit den hormonellen Umstellungen des Alterungsprozesses erheblich zurückgehen.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Schleimhäute für ihre wichtige Funktion genügend Feuchtigkeit benötigen. Daher wird speziell für Leute, die längere Zeit sprechen oder singen müsssen empfohlen, genügend zu trinken.





Schädigungen der Stimmlippen
Bei zu starker Beanspruchung der Stimmlippenoberfläche kommt es zu Schädigungen, wie Entzündungen, Knötchen, Ödemen etc..


Pädagogisches
Vorstellungen über die Stimmfunktion sind normalerweise am Druck orientiert, der in den Lungen aufgebaut wird. Dieser ist zwar nötig, um die Luftströmung durch den Kehlkopf in Gang zu setzen. Für den Antrieb der Stimmlippen - damit ist konkret die Übertragung von Energie in die Schwingung der Stimmlippen gemeint- sind aber die Saugkräfte wesentlich. Die Druckkräfte bremsen die Bewegung der Stimmlippen beim Schließen wieder ab, so dass sie über einen gesamten Schwingungszyklus gesehen kaum Energie zur Schwingung beitragen.

So wird auch von Gesangspädagogen (Lichtenberger Schule) empfohlen, bei Übungen zum Singen oder Sprechen eher an Saug- als an Druckkräfte zu denken.